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Forum Literatur Die Stille des Ozeans (Arbeitstitel)
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Es handelt sich hier um die unfertige Version mit einem vorläufigen Arbeitstitel. Personenkonstellationen können sich noch ändern. Rechtschreib-/Grammatik-/Kommatafehler können im Diskussionsthread gemeldet werden. Vermutlich werden einige auftreten, da ich den ganzen Text stupide von meinen Notizen abtippe. Danke!

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Prolog

"Mein liebes Kind, es ist Zeit zu schlafen", hauchte er seinem Schützling ins Ohr. Das dunkelhaarige Mädchen rutschte im Bett herum und blickte in die Augen des älteren Mannes, der ihr noch ein wenig fremd war. "Kannst du mir die Geschichte vom Anfang und vom Ende erzählen? Ich höre so gerne, wie du mir davon erzählst." Die grauen Augen durchdrangen alles und schienen bis in die tiefsten Abgründe des Geistes vorstoßen zu können. "Gerne...", flüsterte er und rückte die Decke zurecht. Dann begann er einen Schöpfungsmythos zu rezitieren, der für lange Zeit im Verborgenen geblieben war; zu groß sind die Mächte dieser Legende, die das Netz des Schicksals einst zu spinnen wagten. Es war wieder an der Zeit die Geschichte weiterzugeben, denn die Abkömmlinge dieser Mächte erlangten langsam aber stetig den Zenit ihrer Existenz.
"Bevor irgendetwas in diesem Kosmos Wissen erlangte oder sich bewusst wurde, etwas zu wissen, durchstreiften der Anfang und das Ende verschiedene Sphären, suchten und doch fanden sie nichts, was ihr Interesse weckte. Aber was, außer die Suche nach "Mehr", blieb den beiden Entitäten, wenn sie schon alles waren und alles sind, was ihnen in ihrer Existenz bekannt geworden war. Plötzlich wurde die Stille durchbrochen und die Suche hatte ein greifbares Ziel. Zeitalter um Zeitalter verging und es rührte sich Wissen in seiner primitivsten Form und wühlte die Sphären, die sich in Geräuschlosigkeit befanden, auf. Geflüster, kaum wahrnehmbar, allerdings ein Sturm, so gewaltig und laut im Vergleich zur absoluten Stille. Keine Worte, keine Silben, nur ein Murmeln, das reges Treiben verkündete. Der Anfang und das Ende musterten, was sich da zu formen begann und schauten das Leben." Zufrieden beobachtete er das schlafende Kind, nun seines in seiner Obhut und verließ das Zimmer. Mit den Erinnerungen daran, als er das Leben zum ersten Mal erblickte, machte er sich an seine Arbeit.

Kapitel 1 - Riten und Traditionen

Es war Anfang September und sie konnte sich beim besten Willen nicht mehr daran erinnern, wie dieses Ritual seinen Anfang nahm und vor allem wann. Die Bäume trugen noch ihr grün, doch seit Wochen konnte sie den steten Verfall der Natur beobachten. Bald würde der Herbst Einzug halten und viele kleine Feste mit sich bringen. Die Nächte waren schon Mitte August herbstlich kühl und oft roch es nach Winter. Amara betrat in Jogginghose und dickem Pullover den Balkon, der sich um die gesamte Ostseite des Hauses erstreckte und auch einen Teil der Südseite umfasste. Drei Türen erlaubten den Zutritt zum relativ schmalen, aber sehr langen Balkon. Von ihrem Zimmer aus trat sie an die frische Luft und atmete tief ein. Es roch nach feuchtem Boden, bitter und nach Regen, obwohl keine Wolke am Himmel war. Die ersten Essen qualmten und erfüllten die Umgebung mit einem Duft, der Amara immer an Weihnachten erinnerte; schöne Erinnerungen an ihre Kindheit, die sie als vorüber ansah.
"Guten Morgen", sagte sie lächelnd zu ihrem Vater, der gerade zwei Tassen mit dampfenden, heißen schwarzen Tee auf den kleinen runden Holztisch stellte. Elegant wie immer, stand er in seinem Morgenmantel und einer teuren Schlafanzughose neben ihr, um seiner Tochter eine braune Fleece-Decke um die Schultern zu legen. Er war ein Schnösel durch und durch, allerdings sehr umgänglich und nur geringfügig arrogant. Gerade kam ihr der Gedanke, dass sie ihn noch nie hat schlafen sehen, aber vielleicht hatte sie es auch nur verdrängt. Seine Nase war sehr gerade, ohne eine einzige Krümmung und wenige graue Haare glänzten in seinem dichten dunkelblonden Haar. Zusammen sahen sie über die Baumwipfel hinweg zum Himmel und begrüßten das erste Licht des Tages.
"Die Farben des Sonnenaufgangs werden von Tag zu Tag intensiver," bemerkte er. Es lag Amara auf der Zunge, etwas über die Umweltverschmutzung loszuwerden, aber zu sehr schätzte sie diese Augenblicke, als dass sie ein wissenschaftliches Gespräch vom Zaun brechen wollte. Ein Schmunzeln legte sich über ihr Gesicht.
Als der Himmel in ein kräftiges Orange getaucht war, durchbrach er das Schweigen und erkundigte sich nach ihrer Freizeitgestaltung. Er zog sie ein wenig auf, als er sich sehr sarkastisch danach erkundigte, ob denn etwas Spannendes passiert sei, doch wie immer, konnte sie das nur verneinen. Viel Spannung gab es in ihrem Leben nicht, das Meiste war Routine oder ihrer Meinung nach determiniert. Sie streckte sich und einige ihrer Knochen knackten, worüber sie kurzzeitig erschrak. Seit einigen Tagen war sie nicht mehr im Training.
"Möglicherweise solltest du deine Zeit vor dem PC und anderen technischen Gerätschaften ein wenig kürzen und etwas für deine Gelenke tun! In den Ferien wirst du nachlässig."
Ihr Vater war sichtlich belustigt und nun spürte sie auch, dass die letzten zwei Stunden vor dem PC vielleicht doch zu viel gewesen waren, denn ihr Rücken schmerzte nun auch noch. Amara lehnte sich über das Geländer und starrte nach unten in den Garten. Die Mieter unter ihnen hatten gestern Geburtstag gefeiert. Ziemlich lang und ziemlich intensiv, denn zum Aufräumen waren sie nicht mehr gekommen. Bier- und Schnapsflaschen lagen auf der Terrasse, auf der Wiese und umgekippt auf den Tischen. Sie beobachtete zwei Nachbarkatzen, die auf einer der langen Bierbänke saßen und in verschiedene Schüsseln schauten. Anscheinend waren die Nachbarn auch nicht mehr in der Lage gewesen das restliche Essen wegzuräumen, denn nun kam die Tierwelt zum nachfeiern. Fehlte nur noch die große Dogge von gegenüber.
"Amara, ich möchte heute wegfahren. Die Traubenlese in der Toskana beginnt bald und ich möchte dieses Jahr vor Ort sein." Seine Stimme war ruhig, doch irgendwie klang Reue nach. "Ich würde dich zu gerne mitnehmen, aber die Schule beginnt in wenigen Tagen und..." sie unterbrach ihn. "Schon gut, kein Problem," erklärte sie kurz angebunden. Ihr Vater führte weiter aus: "Isadora weiß schon Bescheid." Sie nickte nur und verschwand in ihr Zimmer. Isadora, oder Dora, wie Amara sie nannte, war ihr Kindermädchen und eine Art Mutterersatz. Wann immer sie eine Schulter zum Anlehnen brauchte und keine gleichaltrige Freundin in der Nähe war, konnte sie zur ihr gehen. Dora und Amaras Vater kannten sich schon sehr lange, manchmal kam es ihr vor, als würden sich die beiden schon eine Ewigkeit kennen. Nur wenige nannten ihn bei seinem Vornamen, überhaupt pflegten wenig Leute regen Kontakt zu ihrem Vater. Seth hatte die Wohnung gegenüber für Isadora angemietet und jeder hatte für die Wohnung des anderen einen Schlüssel; irgendwie waren sie ein anderes Modell einer harmonischen Familie.
Im Normalfall würde sich Amara wieder ins Bett legen und schlafen, aber da die letzte Ferienwoche angebrochen war, kämpfte sie sich ins Bad und versuchte den Tag sinnvoll zu verbringen. Keine leichte Angelegenheit. Klassische Musik tönte aus den Lautsprechern der Stereoanlage im Bad. Amara fröstelte es, als sie aus der Dusche stieg und sich in ein Handtuch wickelte. Gegen klassische Musik hatte sie nicht das Geringste einzuwenden, ihr Vater hörte sie sehr oft, aber diese schmetternde Arie musste sie abstellen. Sie war erleichtert, als sie modernes Mainstream-Gedudel hörte. Beim Zähneputzen wiegte sie sich im Takt zu einem Lied. Bei Musik achtete sie oft auf die Texte, häufig waren für sie die Worte wichtiger als die Musik, zu einem großen Teil brannten sich diese in ihren Kopf und begleiteten sie den restlichen Tag. So versuchte sie auch bei Sprachen, die sie nicht verstand, eine Übersetzung zu finden, damit es die Musik nicht nur in ihr Herz, sondern auch in ihren Kopf schaffte. Am liebsten war ihr dann aber doch die Musik ganz ohne Lyrik, die Emotionen nur durch die Klänge vermittelte, da konnte sie abschalten. Viele Lieder behandelten momentan dasselbe Thema, irgendwie befand sich die Welt in Aufbruchstimmung. Alle redeten plötzlich von der Endlichkeit des Lebens, wir müssen alle sterben. Ihr Vater sagte immer, dass er sich wie im Barock vorkommt. Alle haben merkwürdige Frisuren und Bärte, tragen auffällige Kleider, sind überschminkt und machen, was sie wollen, weil sie denken, dass sie ohnehin nur ein Mal leben. Recht hat er irgendwie, auch wenn sie diese Zeit nie wirklich erlebt hat. Zögernd setzte sie sich auf den kalten Rand der Badewanne und entfernte den roten Nagellack von ihren Fingernägeln, der schon begann abzublättern. Ein weiteres Mal schwor sie sich, dass sie nie wieder billigen roten Nagellack auf ihre Finger machen würde, denn er setzte sich einfach überall fest. Vorbildlich beseitigte sie alle Pfützen im Bad und tapste Barfuß im Bademantel in ihr Zimmer. Dort nahm sie sich Unterwäsche aus dem Schrank und ein kurzes schwarzes eng anliegendes Strickkleid mit roten Kontrastierungen am Ärmel- und Rocksaum. In einer weiteren Schublade wühlte sie nach einer schwarzen Strumpfhose. Amara war froh darüber, dass das Kleid einen weiten Rundhalsausschnitt hatte und sie ihren Handtuchturban nicht absetzen musste, um sich anziehen zu können. Mit dem Bademantel über dem Arm schlurfte sie in zu großen Hausschuhen ins Bad und hörte ihren Vater in der Küche mit Besteck klappern. Neugierig betrat sie die geräumige Küche, die eine Tür vom Wohnzimmer entfernt war. Ihr Vater mochte den Geruch von Essen nicht im Wohnzimmer haben. Er stand vor dem Esstisch und kämpfte mit einem Laib Brot, der sich vehement wehrte auch nur eine ebenmäßige Scheibe von sich abschneiden zu lassen.
„Weder das Brot, noch die Messer haben Qualität. Ich gehe dann eine Brotbackmaschine kaufen und nehme das selbst in die Hand“ grummelte er. Dass seine Tochter sich darüber amüsierte, brachte ihn auch zum Lächeln und er reichte ihr das Messer. „Versuch du es. Dir liegen Geduldsproben mehr als mir“, dann stellte sie sich neben ihn und begann das Brot zu teilen. Fünf Scheiben legte sie auf einen Teller und auf dem Holzbrett sammelte sie die Krümel und Abschnitte, die der Brotkampf hinterlassen hatte. Diese wurden in einer wiederverschließbaren Tüte verstaut und Isadora übergeben, die sonst schimpfen würde, wenn die Brotkrumen weggeschmissen werden. Sie würde diese in ihre Hackmasse einarbeiten und dann leckere Fleischklöße daraus formen. Darauf freute sich Amara jetzt schon wie ein kleines Kind und dachte an die leckere Soße. „Wir könnten auch einfach eine Brotschneidemaschine kaufen“, sagte sie zu ihrem Vater, während sie Wurstaufschnitt, Käse und Butter aus dem Kühlschrank nahm. Hoch konzentriert belegte er sich seine Brotscheiben mit Wurst und Käse, bis er seine Aufmerksamkeit wieder Amara zuwandte, die ihm nun gegenüber am Tisch saß. Im Hintergrund hörte er die Mikrowelle surren.
„Willst du nichts essen?“ Sie schüttelte den Kopf und sagte: „Ich gehe dann zu Julietta und esse im Laden etwas. Bin gespannt, was es heute für einen Kuchen gibt.“ Die Mikrowelle klingelte und Amara nahm sich die warme Milch, um Schokopulver hinein zu rühren. Kleine dunkle Punkte stiegen in der Tasse auf, die sie durch stärkeres Rühren aufbrach und das Pulver verteilte.

Julietta sperrte gerade den Hintereingang zum Café auf und stemmte die schwere Holztür nach innen mit der Schulter auf, als ihr schon die Ladenkatze entgegen kam. Der schwarzbraune Persermischling miaute sie an und stolzierte ihr hinterher ins Büro, wo sie ihre Tasche ablegte und die Jacke aufhing. Aus dem Schrank nahm sie eine Dose mit Katzenfutter, öffnete sie und verfluchte den Geruch, der diesen Gefäßen entströmte. So roch wenig später auch der Atem der Katze, was sie unerträglich fand. Leider war sie gestern nicht mehr zum Kochen gekommen, sonst hätte sie der Ladenkatze Kana ein leckeres Fresschen gebracht, nun gab es eben nur das Dosenfresschen. Der Fleischklumpen flutschte aus der Dose und landete mit einem feuchten Klatscher im Napf, was Kana nicht weiter störte, denn sie machte sich gleich über ihr Frühstück her. Während die Katze speiste, machte Julietta die Kasse fertig und bereitete die Tische für Gäste vor. Sie sortiere noch einige Bücher in die Schränke und schloss die Eingangstür auf. Eine Viertelstunde bevor das Café öffnete, kam ihr Bruder und brachte verschiedene Kuchen und Gebäck. Er tätschelte seiner Schwester liebevoll den Kopf und setzte sich auf einen der Stühle, die in der Nähe des Tresens standen. Prompt besuchte ihn Kana und ließ sich schnurrend auf seinem Schoß nieder.
„Kannst du mir einen Kaffee machen, irgendwie bin ich noch so müde.“
Julietta nahm eine Tasse aus dem Regal und stellte sie unter den Vollautomaten, der anfing die Kaffeebohnen zu mahlen. Es würde noch eine Weile dauern, bis die ersten Gäste kommen und so räumte sie in aller Ruhe das Gebäck in die Auslage und teilte die Kuchen nach einander in gleich große Stücke. Als alles in der Kuchenvitrine untergebracht war, nahm sie den Kaffee und setzte sich zu ihrem Bruder an den Tisch. Er war in das Kraulen der Katze vertieft.
„Gehst du heute noch zum Sport?“ Seine Schwester streckte ihren Oberkörper und ließ den Blick auf ihre dunkle Haut und den gepiercten Bauchnabel zu. Der kleine blaue Stecker funkelte im Licht. Ihr Bruder trank einen Schluck aus der Tasse und und pikste seine Schwester sanft in die Flanke.
„Du solltest eher aufpassen, dass du nicht krank wirst, wenn du dich immer so kurz anziehst, dass dein Piercing rausblitzt. Und nein, ich gehe heute nicht zum Sport. Seth hat angerufen und gesagt, dass er in die Toskana fährt und mir aufgetragen, die neuen Bücher abzuholen und hier nach dem Rechten zu sehen.“ Ein Seufzen entwich Julietta und sie erhob sich von ihrem Platz, zupfte ihre Kleidung zurecht und nahm sich ein Glas Wasser.

Antworten
Auf ihrem City-Roller fuhr Amara die breite Straße hinunter, die links und rechts von neuen Einfamilienhäusern und kleinen Vorgärten gesäumt war, bis in die Stadt. Das Stadtzentrum lag in einem Tal, das an einigen Hängen noch stark bewaldet war, vornehmlich die Nordhänge, und sich etwas abseits der Zivilisation befand. Die nächste größere Stadt war 40 Minuten entfernt und oftmals waren die Straßen im Winter nicht schnell genug freigeräumt, was auch an den langen Schattenperioden lag, die durch einen etwas zu hohen Berg im Süden entstanden. Letzten Winter war die Stadt für mehrere Tage von der Außenwelt abgeschnitten, allerdings waren die meisten der Bewohner darauf eingestellt und machten sich nichts daraus. Die Alteingesessenen wussten, dass die Sonne zwischen Januar und Februar einen Hügel namens Steige einen langen Schatten werfen ließ und führten Anfang Februar, wenn die ersten Sonnenstrahlen wieder die Talsohle trafen, ein großes Fest durch. Hoch oben auf der Steige thronte eine mächtige Burgruine und zeugte vom hohen Alter dieser Stadt. Die umliegenden Wälder wurden von schroffen hellgrauen Steingipfeln unterbrochen. Wer sich zur Besichtigung der Burgruine aufmachte und die andere Seite der Gegend überblickte, sah eine unwirkliche Karstlandschaft mit unterschiedlich stark bewaldeten Erhebungen. Im Herbst wirkte diese Landschaft mystisch und regte bereits vor hunderten von Jahren zur Bildung vieler Legenden und Mythen an. In den Wäldern tummelten sich laut dieser Erzählungen viele große und kleine Wesen; Kobolde, Trolle, Lindwürmer und auch Einhörner wurden hier schon zuhauf erspäht, doch nie gefangen. Die Sichtungen häuften sich, sobald sich ein dicker Nebelschleier über die Landschaft legte oder die Wolken so tief hingen, dass sie förmlich berührt werden konnten. Amara kam schwungvoll in der Fußgängerzone der Altstadt an, mied aber den breiten gepflasterten Weg, der direkt zur gotischen Kirche führte. Sie steig von ihrem Roller und bog nach links in eine kleine Seitenstraße und verliebte sich immer wieder aufs Neue in diese Gassen. Zwar hielt der Herbst Einzug, doch die kleinen verwinkelten Pfade zeugten immer noch von den mediterranen Einflüssen und des immer sehr heißen Sommers. Palmen in Töpfen standen vor den Eingängen der Fachwerkhäuser, auch andere Pflanzen fanden ihren Platz. An den Fenstern waren noch Blumenkästen oder Blumenampeln angebracht, in welchen vereinzelte lila Petunien mit weißen Tupfern blühten. Neben jeder Tür hing eine Laterne an einer gusseisernen und reich verzierten Halterung. Die meisten Häuser waren mit einander verbunden, außer eine enge Gasse durchdrang die Reihe und an vielen dieser Ecken war ein Strauch mit dürren Zweigen und langen Furchen im Stamm zu sehen, der im Frühjahr aufblühte. Diese Fliedersträucher blühten vornehmlich in verschiedenen zarten lila Tönen, dazwischen blühten auch vereinzelt weiße Sträucher in den Gassen. Die Fassaden der Häuser waren nicht alle weiß, sondern leuchteten ebenfalls in bunten Farben wie hellblau, gelb, grün und orange in der Sonne. Zusammen mit den ebenso bunten Fensterläden bot dieser Anblick Potential für ein Gemälde. Als sie die Gasse durchlaufen hatte und streng genommen einen Umweg gegangen war, kam sie wieder auf der großzügigen Fußgängerzone an, die nur Fachwerk mit makellosen Vorderseiten zeigte und das Zentrum zur Schau stellte. Die vier Glocken des protzigen sakralen Gebäudes läuteten neun Uhr und unter dem Portal stand, zwischen Tür und Angel, ein Pfarrer, der sich mit einer älteren Dame unterhielt. Ihr Vater hatte ihr vor kurzem vom Priestermangel in der Region erzählt, nun fragte sie sich, ob er von dem neuen Pfarrer wusste und was der Neue wohl von einigen der heidnischen Feste hielt, die hier gefeiert wurden. Amara sah, dass die Hintertür zum Laden offen stand, die in der kleinen Gasse lag, die ihr einige unheimliche und beängstigende Kindheitserinnerungen ins Leben rief. Doch trotzdem ging sie immer wieder diesen Weg, denn oftmals hatte es für sie den Anschein, als könne sie ausschließlich diese Furcht empfinden und für kein anderes Gefühl gab es in ihr Raum. Fühlen wollte sie dennoch etwas, wenn es auch scheußlich war.
Viele ältere Leute waren unterwegs und erledigten ihre Einkäufe, auch die ersten Gäste saßen im und vor dem Café. Sie betrat das Taijitu's, eine Lokalität, deren Wände schon viel gehört und gesehen haben; Romanzen, wahre Liebe und Tragödien. Auch der Name dieses Cafés ist Teil einer Geschichte voller Gefühle, welche die Wände des alten Fachwerkhauses immer noch ausstrahlen. Viele Kleinigkeiten erzählen von Erlebnissen und tragen in sich die Erinnerung vergangener Tage. Amara öffnete die große Glastür, die von dunkel gestrichenen Holzpfosten eingerahmt war. Der Geruch von Kaffee, Gebäck und Büchern flog ihr entgegen und mit einem fröhlichen Grinsen begrüßte Julietta ihre Freundin.
„Guten Morgen, meine Liebe! Heute bist du aber früh auf den Beinen!“ Julietta zog ihre beste Freundin gerne mit solchen Kleinigkeiten auf. Amara winkte ab und begrüßte sie mit einer Umarmung hinter dem Tresen.
„Wie geht’s dir?“, fragte sie Julietta, die gerade eine Bestellung fertig machte. Die heiße Schokolade bekam eine Haube aus Sahne von ihr verpackt und wurde dann zu einem der Tische bugsiert. Lächelnd kam sie zurück und tätschelte Amara an der Schulter.
„Mir geht es sehr gut, aber die Ferien könnten ruhig noch etwas länger gehen. Verrätst du mir schon etwas über den nächsten Ball?“ Ein Seufzer entstieg Amara. „Später, ich bringe erst meine Jacke nach hinten und fülle die Inventarlisten aus.“ Vorbei an der Wendeltreppe, die ins obere Geschoss zur Terrasse führte, ging sie zur Tür, die in die ehemaligen Stallungen des Hauses führten. An der Holztür, in die eine große Eule geschnitzt war, hing am metallenen Schnabel ein Schild mit der Aufschrift: Nur für Personal. Während sie an der dunklen Treppe mit dem moosgrünen Geländer entlang schritt, versetze der Hauch ihrer Bewegung den weißen Traumfänger mit dem schwarzen Netz, der an der Treppe hing in Bewegung und sanft wiegten sich die grauen Federn im Luftzug. Amara bahnte sich vorsichtig den Weg in der Dunkelheit, weil sie vergessen hatte den Lichtschalter zu betätigen und für eine Rückkehr zu träge war, und nicht über die unzähligen Kisten voller Bücher stolpern wollte. Am Ende des Korridors sah sie einen Lichtspalt aus dem Büro dringen und auch die Tür zum Lager war geöffnet. Allerdings fiel ihr auf, dass die Hintertür nun wieder geschlossen war, möglicherweise hat sie der Wind zugeschlagen. Im Büro angekommen, hing sie die Jacke an einen Haken und legte ihre Handtasche ab, steckte jedoch das Smartphone in eine ihrer Seitentaschen des Kleides. Sie hörte im Lager ein lautes Geräusch, als wäre eine Kiste von einem Stapel gefallen und hatte als übliche Verdächtige die Ladenkatze im Sinn, welche sie sich nun vorknöpfen wollte. Mit einem Leckerli ausgerüstet ging sie zur Tür des Lagerraums, kam aber nicht weit, weil sie vor Schreck in sich zusammenfuhr. Sie rang nach Luft und löste bei ihm einen Lachanfall aus. Jason stand mit einer Kiste voller Bücher vor ihr und machte kehrt in den Lagerraum. Dort stellte er die Kiste an ihren Platz zurück und ging zu dem verschreckten Mädchen.
„Also ich darf doch bitten,“ sagte er lachend. Er tastete an der Wand nach dem Lichtschalter und der Gang wurde in ein Zwielicht getaucht, da nur eine funktionierende Glühbirne an der Decke hing.
„Wird Zeit, dass ich hier wieder mal etwas tue.“ Amara betrachtete Jason ausgiebig, der sich nun aus der Umarmung gelöst hatte. Vor einem halben Jahr hatte sie ihn zuletzt gesehen. Er studierte Sportmedizin und war deshalb nur in den Semesterferien für einige Tage daheim. Sein muskulöser Oberkörper zeichnete sich durch das T-Shirt ab und seines Afros hatte er sich entledigt. Strahlend weiße Zähne blitzten hervor und er wuschelte ihr durch die Haare. Sie hatte ihn nicht so groß in Erinnerung, schätze ihn aber auf über 1,85m. Seine Haut wirkte in dieser schummrigen Beleuchtung dunkler als sonst und war ein starker Kontrast zu seinem Shirt.
„Wie geht es dir? Wir haben uns ja lange nicht mehr gesehen!“ Jason lächelte bei der Frage, die er stellte liebevoll. Noch ein wenig verschüchtert, zog sie sich in das Büro zurück und ließ sich dort auf dem Drehstuhl nieder. Sie öffnete die Inventarlisten am PC und scannte ein Buch nach dem anderen ein.
„Habe ich dich so sehr erschreckt? Also bitte, das ist Klischeehaft. Der böse schwarze Mann.“ Diesen Witz riss er oft, doch Amara mochte diese Scherze nicht, sie wusste, dass Julietta und Jason es in der Schule nicht einfach hatten, weil ihre Mutter aus Südafrika stammte und der Vater Chinese war. Jason kam eher nach der Mutter, die auch hoch gewachsen war, aber eine sehr schlanke, feingliedrige und vornehme Frau. Julietta war nicht so groß wie ihre Mutter, aber mindestens so hübsch. Ihr Haarschnitt war ein lockiger Bob und einige ihrer krausen Strähnen fielen ihr ins Gesicht. Amara rang sich zu einer Antwort durch: „Mir geht es gut. Ich bin nur etwas müde, du weißt ja von der Teezeremonie.“ Jason lachte laut und legte Bücher aus einer zweiten Kiste im Stapel auf den Schreibtisch. „Wie ist das Studium? Hast du schon Freunde gefunden?“ Der junge Mann setzte sich auf den anderen Stuhl und zupfte seine Jeans zurecht. „Die Jungs aus der WG sind super, ansonsten ist es bisher noch ganz entspannt. Das nächste Semester wird hart, wir haben noch mehr Kurse. Wenn es wenigstens nur Sport wäre, aber ich muss auch Medizin pauken, es wird einfach nicht weniger.“ Ihre Beine hingen in der Luft und sie stieß sich am Schreibtisch einige Mal ab, um sich ein wenig auf dem Stuhl zu drehen. Plötzlich sprang Amara auf, nahm seine Hand und zog ihn vom Stuhl. „Lass uns zu Julietta gehen, sie denkt sonst, wir treiben sonst was.“ Sie zwinkerte ihm frech zu und er war froh, dass sie wieder in ihren Normalzustand gefunden hatte. Jeder trug eine Kiste in das Café und sie verteilten die Bücher in den Regalen. Julietta beobachtete die beiden argwöhnisch, denn sie kannte ihren Bruder einfach zu gut. Kana schlich um Amaras Beine und gab ein Miauen von sich, um Aufmerksamkeit zu bekommen, doch sie wurde ignoriert. Dabei wollte sie nur das Leckerli aus der Tasche, das mittlerweile matschig war.
„Wann kommt deine Mutter?“ Julietta stellte Amara ein Glas Limo hin und musterte gedankenverloren ihren Bruder, der die Treppe nach oben ging, welche immer an einer bestimmten Stelle ein lautes Knarzen von sich gab. „Erde an Julietta!“ Amara fuchtelte mit einer Hand vor dem Gesicht ihrer besten Freundin herum. Sie fuhr hoch und schüttele ihre Gedanken ab. „Meine Mutter kommt um 11 Uhr. Sie wollte noch die Küche aufräumen.“ Julietta verschwand mit ihrem Café-Smartphone nach draußen und nahm weitere Bestellungen auf diesem auf. Immerzu lächelte sie, nie ließ sie andere es spüren, wenn es ihr schlecht ging, doch Amara nahm es wahr. Bis vor sechs Jahren war es Amara möglich negative Emotionen an sich zu reißen, zu absorbieren und so die Seele der Menschen zu heilen. Von einem Tag auf den anderen wurde ihr diese Fähigkeiten genommen und sie musste zusehen, wie ihre Freundin im Stillen litt. Da sie ihre Freundin nicht bei der Arbeit stören wollte, Hilfe wollte Julietta nämlich nicht, ging sie nach oben auf die Terrasse. Hier saßen die Gäste der Bibliothek, die einen jährlichen Beitrag zahlten. Sie konnten regelmäßig Bücherwünsche äußern und Seth besorgte diese Bücher, sowohl für die zahlenden Gäste als auch für Gäste des Cafés, die nur gelegentlich kamen. In der Bibliothek gab es Tablett-PCs, über die Getränke und andere Kleinigkeiten bestellt werden konnten. Amara betrat den Lesesaal und sah Jason auf einem der dunkelbraunen Ledersofas sitzen. Neben ihm stand ein Karton mit Büchern, in den Händen hielt er eines und schmökerte darin. Es war noch niemand hier oben, nur Kana durchbrach die Ruhe mit ihrem leisen Tapsen, bis sie auf das Sofa sprang und sich in den Karton setzte. Jason legte das Buch zur Seite und blickte zu Amara. Wieder durchbrach er das Schweigen, das schon ein Mal zwischen ihnen herrschte.
„Hör zu, du musst dir keine Gedanken um mich machen. Mir geht es gut und der Tod unseres Vaters ist nun schon sechs Jahre her. Ich weiß, dass du denkst, ich trage die meiste Verantwortung, aber das ist okay. Julietta geht es gut und dein Vater hat uns wirklich vor einer Misere bewahrt.“ Er massierte seinen Nacken aus Verlegenheit, Amara kannte diese Gesten und war sich über deren Bedeutung im klaren. Sie ging auf die Terrasse und deutete ihm an, dass er ihr folgen sollte. Julietta und Jason hatten vor sechs Jahren ihren Vater bei einem Unfall verloren, zu diesem Zeitpunkt war er in seinem Heimatland und besuchte die Familie. Ursprünglich war er der Besitzer des Taijitu's und eigentlich war es eine Apotheke, die sich auch mit chinesischer Heilkunde beschäftigte. Nach seinem Tod war aber niemand mehr da, der diese Apotheke weiterführen konnte, da ihre Mutter keine geeignete Ausbildung für dieses Gebiet hatte. Die Familie stand vor dem finanziellen Ruin, da sowohl auf ein Haus als auch auf den Laden noch ein Kredit lief. Sie verkauften das Haus, trotzdem blieb noch ein Berg Schulden und ihre Mutter, Mirijam, musste stark bleiben, arbeitete viele Stunden in einer Bäckerei und kellnerte nebenbei. Damals tröstete Amara ihre neue Freundin jeden Tag, nahm ihr den Schmerz und verschaffte ihr die Möglichkeit zu lächeln. Zumindest für einige Wochen. Ebenso ihrem Bruder, doch Amara wurde zu einer tickenden Zeitbombe. Seth löste die Kredite aus und sprach mit Mirijam über ein Café, zusammen entwickelten sie die Idee mit der Bibliothek. Der Familie ging es langsam besser, unter anderem weil Seth sich ebenfalls um einen Psychologen für die Familie bemühte. Amara sollte sich keine Gedanken mehr um ihre Freundin und deren Bruder machen müssen – das war das einzige Ziel ihres Vater. Die Freunde und Bekannten der Familie hielten dies für Mildtätigkeit eines sehr guten Menschen, der eigentlich von den Bewohnern der Stadt eher gemieden wird. Eine Person jedoch konnte einen kleinen Bruchteil dessen erahnen, was wirklich dahinter steckte und eine weitere Person wusste, dass dies nur die Spitze des Eisbergs sein kann. Sie wussten, dass der Tod, Seth Hain, nicht viel Gleichmut besitzt und seine Tat einem gewissen Selbstzweck diente. Doch sie stellte keine weiteren Fragen. Amara und Jason tauschten sich noch eine ganze Weile auf der Terrasse aus, unterhielten sich über das Studium und erzählten einander Klatsch und Tratsch. Julietta gesellte sich schließlich zu dem Gelächter und stellte Getränke auf den Tisch. Mirijam war nun im Laden und übernahm alles weitere bis ihre Angestellte sie nachmittags ablöste bis es Abend wurde.


„Nun erzähl schon über den Ball, Amara! Die ganze Stadt ist schon gespannt und redet darüber.“ Nun wurde auch Amara ganz hibbelig und erzählte einige Details, die natürlich noch streng geheim waren. „Der Ball wird in dem alten Anwesen unter der Burg stattfinden. Mein Vater hat es dafür organisiert und möchte am 31. Oktober einen Herbstball dort aufführen.“ Jason holte Luft und begann Amara wieder aufzuziehen: „Es wundert mich, dass dein Vater noch nicht die ganze Stadt aufgekauft hat. Er ist doch bestimmt millionenschwer und du wirst eines Tages alles erben. Hach, du wärst ein wirklich guter Fang.“ Nachdenklich rührte Amara mit dem Trinkhalm in der Limo herum. „Also ich sehe nicht viel von dem Geld und wirklich viel weiß ich auch nicht von dem Unternehmen. Delikatessen und andere Lebensmittel werden vertrieben, seit fünf Jahren spielt mein Vater den Hobbywinzer und fährt ständig in die Toskana. Keine Ahnung wie reich er ist, wir wohnen auch nur in einer Wohnung.“ Wieder schaltete sich Jason ein: „Dein persönliches Kindermädchen nicht zu vergessen, das in der, von Seth bezahlten Wohnung lebt.“ Amara holte tief Luft und schaute in den blauen Himmel. „Wie auch immer. Er wollte die Bälle nicht mehr in der kleinen Stadthalle feiern, deshalb macht er ihn größer, richtig groß.“ Julietta bekam große Augen und rutschte näher an ihre Freundin heran. „Wie groß? Sag schon allerliebste Freundin!“ Nun sprudelte es aus Amara in einem Strom heraus, denn sie war mindestens genauso begeistert davon, wie es ihre Freundin sein wird, wenn sie die wichtigsten Eckdaten kennt. „Er möchte Samhain feiern und damit auch die anderen Geisternächte. Samhain ist anscheinend der Ursprung von Halloween und das möchte er nun in einer neuen Form zelebrieren. Dazu kommen dann auch Bälle, die an den Abenden vor dem ersten Mai und dem ersten August stattfinden. Man glaubte damals, dass in diesen Nächten das Tor zur Anderen Welt offenstand und auch Kontakt mit diesen Wesen aufgenommen werden konnte. Außerdem möchte er große Feiern auf dem Stadtplatz am Vortag machen und auch am Tag danach, mit Spielen für Kindern, Masken schnitzen und vieles mehr! Außerdem jährt sich das bestehen der Familie Hain wohl zum 500ten Mal und ich habe den Tag darauf Geburtstag.“ Julietta war ganz aus dem Häuschen und suchte auf ihrem Smartphone nach einem Ballkleid. Amara lächelte zufrieden und hörte die Kirchenglocken läuten. Ein kurzer Schauer lief ihr über den Rücken und ließ sie hochfahren. „Was wohl der Pfarrer dazu sagt?“, fragte Jason. „Was soll er schon sagen? Freie Wahl der Religion. Und Weihnachten ist schließlich auch ein heidnisches Fest. Eines mehr oder weniger, ist jetzt auch schon egal.“ Julietta stimmte Amara zu und zeigte ihr ein Kleid, das sie auf dem Display nicht richtig erkennen konnte, weil er zu verschmiert war. „Es geht um die Andere Welt. Das ist kein Teil der Bibel und das kann man auch nicht angleichen.“ Jason meinte es anscheinend ernst.
Julietta murrte: „Was bist du denn für eine Spaßbremse? Es wird doch nur getanzt, wir beschwören keine Geister.“
„Trotzdem habe ich kein gutes Gefühl dabei.“
Amara gähnte und blinzelte Müde auf die Uhr. „Amy! Lass uns zu dir gehen und Kleider ansehen!“ Julietta war fast schon zu begeistert von dem Ball und tanzte vor Freude. „Gehen? Zu mir? Der Berg. Ich rolle ihn nur runter und lasse mich hochfahren.“ Julietta zog eine Schnute und zupfte am T-Shirt ihres Bruders, der sich mit einem langen gespielten Seufzer erbarmte. Voller Freude hüpfte Julietta nach unten und gab ihrer Mutter hinter dem Tresen einen Kuss auf die Wange. Sie war verblüfft über die Fröhlichkeit ihrer Tochter. „Jason fährt uns zu Amy und dann bleibe ich ein wenig bei ihr.“ Mit einem Lächeln und einem Nicken stimmte sie zu und winkte ihnen hinterher. Den zusammengeklappten Roller legte Amara in den Kofferraum und setzte sich nach hinten.
„Von wem hättest du dich denn heute den Berg hochfahren lassen?“
Julietta liebte es Amara damit aufzuziehen.
„Weiß nicht, irgendjemand findet sich immer. Alle sind hier so neugierig und wollen mehr über meinen Vater wissen, ohne ihn selbst fragen zu müssen.“ Gedankenverloren sah Amara aus dem Fenster. Als sie an dem Mehrfamilienhaus ankamen, sahen sie Isadora mit ihrem roten Cabrio in die Tiefgarage fahren.
„Meinst du, dass sie uns noch ein wenig mehr über den Ball verrät?“ fragte Julietta auf dem Weg in die erste Etage. „Bestimmt“ sagte Amara und kramte nach ihrem Schlüssel in der Handtasche. Im selben Moment hörten sie wie Isadora auf ihren Stöckelschuhen und mit raschelnden Tüten den Hausgang betrat. Die Freundinnen blieben an der Wohnungstür stehen und beobachteten neugierig, was Isadora für Tüten mit sich brachte. Unschwer konnte man erkennen, dass sie außerhalb Powershoppen war und einiges an neuer Kleidung erstanden hatte. Isadora kam die Treppe nach oben und freute sich, dass sie schon erwartet wurde. Die 48 Jahre sah man ihr nicht an, sie hatte kaum Falten und wirkte durch ihren Kleidungsstil eher wie ende 30. Sie trug ein hochwertiges hellblaues Kleid mit hervorgehobenen Nähten, Rundhalsausschnitt und leichter A-Silhouette. Die blonden lockigen Haare fielen über ihren Rücken und an den Handgelenken glitzerten goldene Armreife.
„Perfektes Timing!“ Isadora wandte sich den Mädchen zu, musterte sie und ging beschwingt an ihnen vorbei in die Wohnung von Seth. Im Wohnzimmer ließ sie ihre Einkäufe fallen und umarmte zuerst ihr Küken. „Amara! Holst du mir bitte etwas zum Trinken? Wir drei müssen unbedingt etwas besprechen!“ Julietta umarmte Isadora ebenfalls und setzte sich mit ihr auf das schwarze Ledersofa. Amara kam mit Wasser und Softdrinks aus der Küche zurück und stellte Gläser aus der Vitrine auf den Couchtisch. „Der Ball ist in sechs Wochen“ verkündete Isadora, „und ihr braucht Kleider. Vor allem du, Amara.“ Erstaunt zog Amara die Augenbrauen hoch und blickte dann zu Julietta, die nur mit den Schultern zuckte. „Amara, du wirst an diesem Abend in die Gesellschaft eingeführt.“ Bevor Amara etwas einwenden konnte, sagte Isadora weiter: „Und dein Vater wird dich als offizielle Nachfolge für das Unternehmen vorstellen und dir ein kleines Vermögen übergeben.“ Julietta verschluckte sich an ihrem Wasser. Amara klopfte ihr auf den Rücken und sah Isadora fragend an. Sie verstand nicht, warum sie plötzlich etwas mit dem Unternehmen zu tun haben sollte, zu mal sie es nicht wirklich kannte. Isadora schlug die Beine übereinander und stimmte ihren Vortrag wieder an, nachdem sich Julietta erholt hatte.
„Es ist kein Problem, dass du dich noch nicht richtig in dem Unternehmen auskennst. In einem Jahr bist du mit der Schule fertig und kannst ein Studium beginnen. Während des Studiums wirst du im Unternehmen als die rechte Hand des Vaters arbeiten.“ Amara starrte auf ihre Hausschuhe, um ihre Gedanken zu ordnen. „Ich gebe auf keinen Fall die Debütantin und ich will um Himmelswillen kein 'kleines Vermögen' überreicht bekommen, während die Hälfte meiner Klassenkameraden unten steht und das alles sieht. Mal ehrlich, sonderlich beliebt bin ich jetzt schon nicht, aber das wäre die Krönung.“ Julietta stimmte ihr mit einem Nicken zu. Mittlerweile hatte sie es sich auf dem Sofa bequem gemacht und ihre Beine auf die Sitzfläche gelegt. Sie versank immer mehr im Polster, so wie die Meisten, die länger als zehn Minuten auf diesem Sofa saßen. Isadora betrachtete ihre manikürten Fingernägel mit Wohlwollen. „Wann hat Vater das beschlossen?“ Amara stand vom Sofa auf und holte Knabbereien aus dem Schrank. „Kinder, wollt ihr denn nichts vernünftiges essen?“ Isadora intervenierte als Julietta bei den gesalzenen Erdnüssen zugreifen wollte. „Wir sind noch nicht zum Mittagessen gekommen.“ Bei diesen Worten stand Isadora abrupt auf und stolzierte in die Küche. Julietta zog Amara zu sich und fragte: „Bist du dir sicher, dass dein Vater nichts mit ihr hat?“ Amara nickte nur und folgte Isadora anschließend in die Küche, wo sich die Mädchen an dem Esstisch niederließen. Derweil suchte Isadora allerhand Gemüse und anderes Essbares aus dem Kühlschrank zusammen, um ein kleines Festmahl zu kochen. „Im Übrigen hat das dein Vater heute auf mein Anraten hin entschieden. Die Firma gehört endlich wieder in die Hände eines...“ Kurz schwieg sie, um nach den passenden Worten zu suchen. „normalsterblichen Menschen.“ Amara faltete eine Serviette in verschiedene Formen. „Ich bin also mit meiner Durchschnittlichkeit perfekt für die Firma?“ Isadora warf Amara einen missbilligenden Blick zu, da sie ihr die Worte im Munde verdrehte. „Nein, du bist menschlich genug, um dieses Unternehmen zu leiten. Du hast den richtigen Charakter.“ Als Isadora mit dem Kochen beginnen wollte, schickte sie die Mädchen aus der Küche und sie verkrümelten sich in Amaras Zimmer. „Was für Neuigkeiten. Wahnsinn, so was erlebt man auch nur mit dir. Du gehörst nun zu den oberen 10.000.“ Amara ließ sich auf ihr Bett fallen und starrte die Decke an. „Ganz toll, jetzt soll ich ein Unternehmen übernehmen, dabei wollte ich doch auf Lehramt studieren.“ Sie atmete tief ein und blickte zu Julietta, die Amaras PC einschaltete, um wieder nach Kleidern zu suchen. Mit etwas Schwung rollte sie sich auf die Seite und versuchte ihre Handtasche zu greifen. Ihr Smartphone klingelte und Julietta drehte sich neugierig zu ihr um. „Ist nur mein Terminkalender.“ Amara schaltete das Geräusch aus und ging aus dem Zimmer in die Küche. „Isadora?“ Sie schob gerade eine metallene Form in den Ofen, auf der Fleischklöße und Gemüse lagen. „Was ist mein Kind?“ fragte sie und rührte nebenbei in einem Topf. Es roch schon verführerisch nach verschiedenen Gewürzen und Amara knurrte der Magen. „Eigentlich wären wir morgen meine Mutter besuchen gefahren, also Vater und ich. Fährst du mit mir hin? Hat Vater dir etwas gesagt?“ Isadora ging auf sie zu, umarmte sie und gab ihr unvermittelt einen Kuss auf die Wange. Selbst beim Kochen lief sie in ihren teuren Pumps herum. „Seth hat gesagt, dass es von jetzt an deine Entscheidung ist, ob du sie sehen möchtest. Wir können morgen gerne in die Klinik fahren oder der Termin wird abgesagt.“ Amara nickte nur und verließ die Küche ohne ein weiteres Wort zu sagen. Wieder in ihrem Zimmer ging sie auf den Balkon und setzte sich auf einen Stuhl. Unten im Garten war Bewegung, denn die Nachbarn räumten die Überreste ihrer Feier gerade weg. Im Nachbargarten war das Geschrei von spielenden Kindern zu hören. Amara starrte die große Säuleneibe an und wurde aus ihren Gedanken gerissen, als Julietta sich nach dem Befinden ihrer Freundin erkundigte. „Morgen wäre der Tag, an dem ich meine Mutter wieder besuche“, sagte Amara leise. Julietta schwieg einen Moment und setzte sich schließlich auf den anderen Stuhl. „Ich vergesse immer, dass deine Familie zerrissener ist als meine...“ In den Worten von Julietta zeichnete sich echtes Mitgefühl ab. „Du solltest sie besuchen gehen, schließlich ist sie deine Mutter und...“ Amara fiel Julietta ins Wort und fragte: „Was hast du morgen vor? Lass uns zusammen mit Isadora fahren und Kleider shoppen gehen. Das Kleid geht auf meinen Vater, immerhin sind wir fast wie Schwestern! Ich rufe ihn gleich mal an.“ Sie sprang vom Stuhl auf, nahm ihr Smartphone in die Hand, doch Julietta unterbrach sie. „Hey, Moment! Das geht doch nicht.“ Furchen bildeten sich auf Amaras Stirn, als sie ihre Freundin fragend anstarrte. „Wieso? Mein Vater hat anscheinend genug Geld. Wir sollten uns einen schönen Tag mit Isadora machen, nachdem ich meine Mutter besucht habe, dann kann ich das wenigstens wieder vergessen.“ Julietta ließ sich auf das Bett fallen und kapitulierte: „Na gut, aber lass mich erst meine Mutter fragen, ob ich morgen wegfahren kann!“ Juliettas Gespräch war kurz, denn ihre Mutter hatte nichts gegen den Ausflug, zumal es primär darum ging, Amara nach dem Besuch in der Klinik wieder aufzuheitern. Also schnappte sich Amara ihr Smartphone und rief ihren Vater an, der indessen in seinem Auto auf dem Weg nach Italien saß. „Hallo meine Kleine, was gibt es denn?“ „Nur eine kurze Frage. Ich fahre morgen zusammen mit Isadora zu Mutter in die Klinik und ich würde danach gerne mit Julietta Kleider für den Ball anprobieren. Haben wir dein 'Okay' fürs Shoppen?“ Amara hörte im Hintergrund ein Niesen und zog eine Augenbraue hoch. „Ja, kein Problem. Viel Spaß und sag deiner Mutter Grüße von mir.“ „Mach ich, bis bald.“ Es verging noch einige Zeit bis Isadora die beiden zum Essen rief und sie den nächsten Tag planten. Nach dem Essen machte sich Julietta auf den Heimweg und Amara zog sich in ihr Zimmer zurück. Ihr war unwohl bei dem Gedanken an den Besuch bei ihrer Mutter, so sehr dass ihr Magen schmerzte. Sie spürte wie ihr Tränen hochstiegen, doch sie wollte nicht weinen, verdrängte sie so sehr, dass es ihr die Kehle zuschnürte. Isadora klopfte an die Tür und betrat nach kurzem Warten das Zimmer. Sie setzte sich an das Bett von Amara und zog sie an sich. „Du musst weinen, mein Kind. Sonst bleibt der Kummer in deinem Herzen zurück und lässt es erkalten. Lass die kalten Gefühle nicht zu lange in deinem Herz verweilen, du bist doch noch so jung und hast noch so viel vor dir.“ Lächelnd streichelte sie dem Mädchen über das Haar, das sie zusammen mit Seth großgezogen hatte. „Was deine Mutter sich selbst und dir angetan hat, ist schlimm, aber sieh den Verlust, den sie dadurch erlitten hat und zuvor schon erleiden musste. Sie hat ihren geliebten Mann und deinen Vater im Krieg verloren und es gab nichts, wovon sie hätte Abschied nehmen können. Du wirst dieses Gefühl verstehen, wenn du dich verliebst und einen Menschen findest, den du niemals missen möchtest. Wenn du dir wünschst, dass du niemals Ängste um ihn ausstehen musst oder gar um ihn trauern. Dann wird sich dir erschließen, warum auch das Leben ihrer Tochter und die Liebe zu ihr sie nicht in dieser Welt hat halten können.“ Isadora schloss Amara enger in ihre Arme, denn das Schluchzen wurde stärker. Mit brennenden Augen fiel sie in einen unruhigen Schlaf und in ihrem Traum durchlebte sie, wie in fast jeder Nacht, starke Emotionen, die sie in der Realität so nicht kannte. Barfuß sah sie sich in der Abenddämmerung durch den Wald laufen, unter sich spürte sie den feuchten Boden und wie sich immer wieder kleine spitze und trockene Nadeln in ihre Fußsohle bohrten, doch sie ging weiter. An ihren Knöcheln sah sie Schrammen und auch ihre Hände sahen verkratzt aus. Ihr ganzer Körper schmerzte so sehr, als wäre sie schon den ganzen Tag gelaufen, doch irgendetwas trieb sie immer weiter nach vorne. Plötzlich stand sie vor einem Abgrund und blickte hinunter ins Tal. Amara erkannte ihre Stadt und sah die Burg auf der Steige zu ihrer Rechten. Ein Teil der Bäume des Tals glühten, als würden sie in Flammen stehen, dabei verursachte die untergehende Sonne dieses Phänomen. Sie musste kehrt machen, doch in der Ferne hörte sie Stimmen und jaulende Hunde, die anscheinend ihre Fährte aufgenommen hatten. Schließlich versuchte sie den steilen Hang hinaufzuklettern, doch sie rutschte an den Felsen ab und schnitt sich an ihren Fingern. Einige Fingernägel waren eingerissen und ihre Hände nun geschundener als zuvor. Trotzdem glänzte am rechten Mittelfinger immer noch der Ehering. Die Schmerzen waren intensiv, als würden sich kleine Nadeln in ihre Hände bohren. Ihren Versuch die Steilwand zu erklimmen, gab sie auf und sah über den Abgrund. Sterben wollte sie genau genommen nicht, deshalb drehte sie sich um und suchte an einer anderen Stelle nach einem Weg zur Steige. Sie kämpfte sich weiter nach oben und ihr blieb die Luft weg. Für einen Augenblick ruhte sie mit dem Rücken an einem Baum, bis sie ein Knacken hörte, doch es war schon zu spät. Ein von der Hatz nach ihr verschwitzter Arm hatte sich um ihren Hals gelegt und hielt sie im Schwitzkasten. Sie strampelte, schlug mit den Armen um sich, doch sie konnte sich nicht aus dem Griff befreien. Geduldig wartete der kräftige Mann, dessen Atem nach Wein roch auf die Kolonne, die nach dem Mädchen suchte. Eine gewaltige Belohnung war auf sie ausgesetzt und er wusste, dass er sie bekommen würde. Der Suchtrupp samt jaulender Hunde, die versuchten sich von der Leine zu reißen, stand mit Fackeln vor ihr. „Wohin wollte unser Vögelchen denn fliegen? Dein Nest ist in den Armen des Vogts und genau dorthin werden wir dich jetzt bringen.“ Amara wachte Schweiß gebadet auf und warf einen Blick auf die Uhr. Es war erst um kurz vor sechs, doch sie wollte nicht wieder schlafen gehen, was war einfach zu viel. Diese ganzen Leben, die jede Nacht an ihr vorbeizogen. Sie ließ sich Wasser in die Wanne und versuchte die Schmerzen der Nacht zu vergessen, auch wenn diese verhältnismäßig gering waren. Amara kontrollierte ihre Füße und Hände auf Schnittwunden, nicht dass sie doch mitten in der Nacht unbewusst einen Ausflug auf die Steige gemacht hatte, möglich war eigentlich alles. Nach über einer Stunde bequemte sie sich aus dem Bad, dafür war sie aber auch geföhnt und eigentlich bereit für den Tag. Sie setzte sich in ihrem Jogginganzug und die Küche und trank einen warmen Kakao. Im Hintergrund lief wieder das Radio und sie versuchte sich zu entspannen, auch wenn es ihr nicht wirklich gelang.

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